Surrealismus und Primitivismus
Es leben Menschen, von denen wir glauben, dass sie den Primitiven noch sehr nahestehen, viel näher als wie, in denen wir daher die direkten Abkömmlinge und Vertreter der früheren Menschen erblicken. Wir urteilen so über die sogenannten Wilden [...] deren Seelenleben ein besonderes Interesse für uns gewinnt, wenn wir in ihm eine gute erhaltene Vorstufe unserer eigenen Entwicklung erkennen dürfen. Wenn diese Voraussetzungen zutreffend sind, so wird eine Vergleichung der "Psychologie der Naturvölker", wie die Völkerkunde sie lehrt, mit der Psychologie des Neurotikers, wie sie durch die Psychoanalyse bekannt geworden ist, zahlreiche Übereinstimmungen aufweisen müssen und wird uns gestatten, bereits Bekanntes hier und dort in neuem Licht zu sehen.5 (Sigmund Freud, Totem und Tabu, 1913)
Ab 1905 wurden außereuropäische Kunstwerke für Maler und Bildhauer wie Pablo Picasso, Constantin Brancuşi oder Amedeo Modigliani zu Impulsgebern für die Klassische Moderne. Anfangs beschäftigten sich die Künstler mit der Nachahmung der Formen und der Lebenswelt (vor allem die deutschen Expressionisten der Brücke). Diese Phase lässt sich als Exotismus oder Primitivismus bezeichnen.
Im Dadaismus ging es den Beteiligten um die Dekosntruktion der Sprache und des Akademismus. In diesem Sinne wird der Dadaismus häufig als künstlerischer und literarischer Primitivismus beschrieben.
Der Surrealismus ist gekennzeichnet durch eine große und auch aktive Sammelleidenschaft, die sowohl die Charakteristika von Aneignung wie Verteidigung tragen. Die bereits kanonisierten Formen der Skulpturen der Kota und die Masken der Fang zogen mit ihren emblematischen Gestaltungsweisen die Surrealisten gleichsam magisch an. Erste Publikationen über afrikanische Kunst gab es in den 1910er Jahren (z. B. Carl Einstein, Guillaume Apollinaire, Paul Guillaume), hier konnten die Künstler des Surrealismus bereits anschließen. Gleichzeitig öffneten sie sich weiteren Kulturregionen der Welt: Sie präsentierten ihre Werke gemeinsam mit Objekten aus Afrika, Ozeanien, beide Amerikas, Neukaledonien - sowohl in traditionellen Ausstellungen wie auch Publikationen.
Damit wollten sie Kunst und Rezeption von Kunst revolutionieren. Es ging den Künstlern des Surrealismus darum, ästhetische Normen der schönen Künste und die Hierarchien der Kulturen zu stürzen. In den außereuropäischen Exponaten sahen sie auch Hilfsmittel, um eine symbolische Gewalt gegen den Westen zu entfessen. Daher unterstützten sie die in kolonaler Fremdherrschaft gefangenen Ethnien in ihrem Kampf. Dieser Antikolonialismus ging auch aus dem Bündnis der Surrealisten mit der kommunistischen Partei Frankreichs und deren Fundamentalkritik am Imperialismus hervor. Erst die Ausstellung „Primitivism in 20th Century Art" im Museum of Modern Art stellte 1984 diese hohe Bedeutung der außereuropäischen Kulturen für die Entwicklung des Surrealismus wieder heraus.6
Surrealismus und Fotografie
Die Surrealisten waren, nach Wolfgang Kemp, „Benutzer und nicht vorrangig Autoren der Fotografie“7. Damit ist gemeint, dass sie nicht hauptsächlich um des Bildes willen fotografierten, sondern Fotografien nutzten, d.h. mit Montagetechniken arbeiteten, um das Unerwartete, das Phantastische, das Sonderbare hervorzubringen (vgl. Pierre Marc Orlan, 1928). Die jüngere Forschung hat vor allem die Leistungen der Surrealistinnen in den Fokus genommen, wodurch sich der Blick auf die surrealistsiche Fotografie veschiebt. Zu den wichtigsten Fotografinnen des Surrealismus zählt Claude Cahun, die sich in ihren fotografischen Selbstporträts inszeniert und so Geschlecht und Identität einer kritischen Prüfung unterzieht. Künstlerinnen wie Dora Maar suchten in der Dunkelkammer und mithilfe manipulativer Techniken dem fotografischen Bild einen neuen Ausdruck zu verleihen.
Für die surrealistische Fotografie entwickelten Surrealisten und Surrealistinnen „reine“, abstrakte und abstrahierende Verfahren. Die Foto- und Filmpraxis des Surrealismus ist von der Nachbearbeitung geprägt: Die Surrealistinnen und Surrealisten bildeten Negative ab, machten Mehrfachbelichtungen, sengten das Filmmaterial teilweise an, nahmen optische Verzerrungen auf oder Erwärmten die Gelatineschicht.
Zu den ersten Vertretern gehört Man Ray, der bereits in den frühen 1920er Jahren mit technischen Experimenten begonnen hat. Er entwickelte oder adaptierte Techniken wie die Rayografie (Fotogramm), die Solariation (gemeinsam mit Lee Miller, auch: Sabattier-Effekt), die Fotomontage und die Fotozeichnung. Seine Fotogramme betitelte er 1922 mit „champs délicieux [köstliche Felder]“. Das Vorwort von Tristan Tzara hatte die Überschrift: „La Photographie à l’envers [Die verkehrte Fotografie oder Die Fotografie andersherum]“ Noch im selben Jahr stellte auch die „Vanity Fair“ die neue Methode der Rayografie vor.
Die Rayografie war ein Verfahren, das von Talbot angewandt hatte, als er Spitzen und Blätter im Kontaktabzug abbildete. Bereits 1918 hatte Christian Schad in Zürich ähnliche Bilder hergestellt, die er Schadografien nannte. Auch im Bauhaus spielte das Fotogramm eine große Rolle. Für die Pariser Dada-Gruppe, der Ray angehörte, waren diese Selbstabbildungen pures „Dada“. Deshalb waren sie auch den Surrealisten nahe. Indem sie das Medium von menschlicher und apparativer Einwirkung befreiten, nahmen sie das Schreiben mit Licht“ wörtlich. Salvador Dalí äußerte sich begeistert über surrealistische Fotogramme:
„Die Hand greift nicht mehr ein. Feine physikalisch-chemische Harmonien.“
Die Solarisation bedeutete während des Entwicklungsprozesses in der Dunkelkammer Licht zuzuführen. Dadurch entstand eine partielle Umkehr der Lichteinwirkung: Teile des Bildes erscheinen als Negativ-, anders als Positivbild, Konturen verschwinden und werden durch parallele Licht- und Dunkelbänder begleitet, Körper lösen sich zugleich auf und werden plastisch erhärtet.8 Der Effekt speist sich aus der Koexistenz von Positiv- und Negativbild, der einer Aurafotografie nicht unähnlich ist.
Die „reine“ Fotografie, welche auf all diese Manipulationsmöglichkeiten verzichtete, basiert auf den Pariser Stadtbildern von Eugène Atget (1857–1927). Vor allem Fotografen wie Louis Aragon entdeckte 1926 in „Le paysan de Paris“ die surrealen Qualitäten der Wirklichkeit wieder. Brassaï (Gyula Halász, 1899–1984) veröffentlichte den Bildband „Paris de nuit [Paris bei Nacht]“ und sammelte – auf Anregungen von Picasso – zwischen 1932 und 1938 die Graffiti von Paris. Inspiriert wurde dafür von seinem ungarischen Landsmann André Kertész (1894–1985). Eli Lotars (Eliazar Lotar Teodorescu, 1905–1969) Fotografien von geschlachteten Kälbern gelten heute als bedeutende Werke des Surrealismus.
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