03.07.1998 - Frankfurt Höchst
Von Angelika Ohliger
Im Porzellanhof an der Palleskestrasse war gestern Merkwürdiges zu erfahren: In der Höchster Manufaktur werden Scherben hergestellt, und ein wichtiges Prüfinstrument des Industriekeramikers ist die Zunge. Der Andrang war gross, als der neue Porzellanhof - seit 1996 in den neuen Räumen - zum zweiten Mal seine Türen für interessierte Besucher öffnete.
Der "gestörte Schlummer" ist unser jüngstes Kind, berichtete Mario Effenberger. Anhand des Figuren-Ensembles mit dem schönen Namen erklärte der Leiter der Modellabteilung den langwierigen Entstehungsprozess vom Modellieren in Ton über die Gipsform bis zur Produktionsreife einer Figur notwendig.
Die Arbeitsbedingungen im neuen Porzellanhof seien gut für die Qualität der Produkte, sagte Effenberger. Früher war die Manufaktur sehr beengt in einer Baracke untergebracht. Wo mehr Platz ist, können auch moderne, die Arbeit erleichternde Maschinen aufgestellt werden. Als Beispiel zeigte der Modelleur einen Apparat, in dem Gips unter Vakuum gerührt wird, damit keine Bläschen entstehen. Auch neue Materialien wie Silikon zum Abformen können zur Qualitätsverbesserung führen. "Ein Computerspezialist hat mir sogar gesagt, dass die Modelle am PC entstehen können", berichtete Effenberger. Doch um den Liebreiz eines weiblichen Gesichts oder die feinen Falten in einem Gewand darzustellen, sei der Modelleur allemal besser als ein Computer, legte er sich für seinen Berufsstand ins Zeug.
In der Bossiererei, wo Frauen die Figurenteile nach dem Guss und vor dem Brand zusammensetzen und ihnen durchaus eine eigene Note geben, übernahm Veit Luther die Besuchergruppen und führte sie in den Weissbetrieb. Unwillkürlich packten die Frauen ihre Umhängetaschen und zogen sie dicht an den Regalen zu fegen. Auf fahrbaren Gestellen stehen Massen von Tassen, Vasen, Krügen, Tellern, Kanen und Deckeln in allen Produktionsstufen. Luther, Leiter des Weissbetriebs, zeigte den riesigen "Eierschneider", mit dem die runden Rohlinge für die Tellerherstellung aus einer dicken Porzellanwurst geschnitten werden. Er führte den computergesteuerten, gasbetriebenen Brennofen vor. Er tauchte einen Teller tief in die Glasurflüssigkeit, um zu zeigen, dass auch dazu hohe Kunstfertigkeit gehört. Kurz zuvor kam übrigens seine Zunge zum Einsatz. "Das Porzellan muss vor dem Glasieren roh und saugfähig sein".erläuterte Luther. Mit der Zunge wird die richtige Konsistenz geprüft.
Ein Besucher fragte: "Bilden Sie auch aus?" "Wir würden gerne, aber es meldet sich niemand, der bei uns Industriekeramiker werden will", war Luthers überraschende Antwort. Vor Scherben braucht ein Auszubildender keine Angst zu haben, denn in der Porzellanmanufaktur heissen alle Produkte Scherben, auch wenn sie nicht zerstorben sind.
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